San Francisco Silent Film - Filmfestival 2006

Reihe: Retrospektive

Au Bonheur des Dames

Mise en scène:   Julien Duvivier, France - 1929
Producteur: Marcel Vandal - Charles Delac - Metteur en scène: Julien Duvivier - Scénariste: Noël Renard - D'après : Emile Zola - Directeur de la Photographie: Armand Thirard - Emile Pierre - André Dantan - René Guychard - Direction artistique: Fernand Delattre - Christian-Jaque - Acteurs: Dita Parlo - Ginette Maddie - Andrée Brabant - Pierre de Guingand - Nadia Sibirskaia - Germaine Rouer - Armand Bour -
Sommaire (en Allemand): Die junge Waise Denise kommt aus der Provinz in die Großstadt Paris. Ihr Onkel hat sie Monate zuvor, nach dem Tod ihres Vaters, eingeladen und ihr eine Anstellung in seinem Geschäft für Stoffe in Aussicht gestellt. Doch als Denise in der Metropole ankommt, zerplatzen ihre Träume. Gleich gegenüber dem Laden ihres Onkels hat kürzlich ein Kaufhaus eröffnet, "Das Paradies der Damen". Dieses wartet mit einem höheren Angebot und niedrigeren Preisen auf - da kann der Einzelhändler gegenüber nicht mithalten. Der Stoffladen von Denises Onkel steht kurz vor dem Konkurs.

Doch Denise ergattert eine Anstellung als Modell im "Paradies der Damen" und verliebt sich prompt in den Besitzer des Imperiums. Die Situation spitzt sich zu, als Denises Cousine stirbt und ihr Onkel daraufhin blind vor Wut mit einer Waffe in "Das Paradies der Damen" stürmt. (arte Presse)
Remarques géneraux: Julien Duvivier drehte "Das Paradies der Damen" in den Galeries Lafayette in Paris. Der Film ist eine Momentaufnahme der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die geprägt war durch die Spät-Industrialisierung und der damit einhergehenden gesellschaftlichen Umwälzungen. Der Massenkonsum erhält Einzug, die Menschen wollen Wohlstand und entdecken neue materielle Bedürfnisse. Diese Veränderungen, so zeigt Julien Duvivier in seinem Film, können in Konflikt stehen zu konservativen Werten wie Ehrlichkeit, Familie und Höflichkeit.

Der Kaufhausmogul Octave Mouret strebt nach immer mehr Reichtum und Einfluss, ohne dabei an die Konsequenzen für andere zu denken. Er steht für einen entfesselten, unmenschlichen Kapitalismus. Erst durch die Begegnung mit Denise, deren Familie durch seine Expansion die Existenzgrundlage verliert, begreift er, dass Reichtum nicht alles im Leben ist und er selbst in einem empfindlichen Gefüge von Stärkeren und Schwächeren lebt.

Julien Duvivier ist einer der Routiniers des französischen Kinos vor und nach dem II. Weltkrieg. Er begann als Bühnenschauspieler, wechselte aber schnell ins Regiefach. Die Stummfilmzeit verbrachte er mit Literaturverfilmungen; die Adaptionen besorgte er selbst. Sein erster Tonfilm, die Verwechslungskomödie "Allo Paris, ici Berlin" ist eine deutsch-französische Koproduktion. Mit Jean Renoir, René Clair, Jacques Feyder und Marcel Carné zählt Duvivier zu den Regisseuren des "Poetischen Realismus" der 30er Jahre; sein "Pepe le Moko- Im Dunkel von Algier" mit Jean Gabin war ein derartiger Erfolg, dass ihn Hollywood rief, wo er eine Wiener Operette drehte.

Zurück im alten Europa macht er während der "drôle de guerre" einen Propagandafilm gegen die Nazis, der erst nach der "Libération" herauskam. Nach dem Krieg landete er mit den "Don Camillo"-Filmen mit Fernandel echte Kassenerfolge; aber auch dem Genrefilm mit Adaptionen von Maigret und anderen blieb er treu. Duvivier verstarb 1967 bei einem Autounfall. (Arte Presse)

Les Mendiants de la vie

(Beggars of Life), Mise en scène:   William A. Wellman, USA - 1928
Production: Paramount Pictures, Inc. - Metteur en scène: William A. Wellman - Scénariste: Benjamin Glazer - Directeur de la Photographie: Henry Gerrard - Acteurs: Robert Brower - Frank Brownlee - Jacque Chapin - Andy Clark - Mike Donlin - Richard Arlen - Roscoe Karns - George Kotsonaros - H.A. Morgan - Johnnie Morris - Guy Oliver - Louise Brooks - Robert Perry - Edgar Blue Washington - Wallace Beery -

Bucking Broadway

Mise en scène:   John Ford, USA - 1917
Production: Butterfly Productions - Distribution: Universal Pictures - Producteur: Harry Carey - Harry Carey - Metteur en scène: John Ford (AKA Jack Ford) - D'après : George Hively - Directeur de la Photographie: John W. Brown - Ben Reynolds - Acteurs: Harry Carey Cheyenne Harry - Molly Malone Helen Clayton - Louis M. Wells Ben Clayton, Helen's Father - Vester Pegg Thornton - William Steele Foreman (aka William Gettinger) -
Remarques géneraux: Der Streifen wurde im Jahr 2000 im Filmarchiv des Centre National de la Cinematografie (CNS) in Paris wiederentdeckt. Nach der jüngst abgeschlossenen, aufwendigen Restaurierung mit Know-how der steirischen Forschungsgesellschaft Joanneum Research wird der Stummfilm erstmals in Österreich zu sehen sein.

Falsch beschriftet

Filmhistoriker haben die Entdeckung mit dem Fund eines neuen Gemäldes von Cezanne verglichen. Gefunden wurde die Film aus dem ersten Jahr von Fords Regiekarriere anlässlich der Katalogisierung der Nitritfilmsammlung des CNS. Von Fords Stummfilmen haben nur acht überlebt - inklusive "Bucking Broadway", der im CNS-Archiv lange Zeit falsch beschriftet war und daher nicht entsprechend zugeordnet werden konnte.

Erst bei der Katalogisierung erkannten die CNS-Mitarbeiter den legendären Schauspieler Harry Caray - jenen Schauspieler, mit dem Ford die meisten seiner frühen Filme drehte - und konnten den Film identifizieren. Nach der Erstausstrahlung im Sender "France 3" und der Präsentation im Museum of Modern Art in New York wird der Film samt Livemusik im Rahmen des Grazer Klassik-Filmfestival "Classics in the City" nun erstmals in Österreich zu sehen sein.

Der Streifen des damals 23-jährigen Regisseurs besteche durch seinen rigorosen Aufbau, seine ausgefeilte Bildzentrierung und seinen Schnittrhythmus, heben Filmexperten hervor. Im Zentrum steht ein Cowboy auf einer Ranch in Wyoming. Er verliebt sich in die Tochter seines Dienstgebers und folgt ihr bis zum Broadway, um sie aus den Händen ihres Entführers zu befreien. Hauptattraktion des Films ist ein spektakulärer Reiterzug am Broadway und Kampfszenen auf einer Hotelterrasse.

Der beschädigte Film aus den Kindertagen des Westerns wurde mit Hilfe einer digitalen Filmrestaurierungsmethode aus Graz wieder hergestellt. Mit der Software, die am Institut für Informationssysteme und -management des Joanneum Research entwickelt wurde, konnten die 60.000 Einzelbilder in den Laboratoires Neyrac Films von Kratzern, Staub- und Wasserflecken und anderen Schäden befreit werden. (APA)

Chicago

Mise en scène:   Frank Urson, USA - 1927
Production: DeMille Pictures Corporation - Metteur en scène: Frank Urson - Scénariste: Lenore J. Coffee - D'après : Maurine Dallas Watkins play - Directeur de la Photographie: J. Peverell Marley - Montage: Anne Bauchens - Direction artistique: Mitchell Leisen - Décorateur de plateau: Ray Moyer - Création des costumes: Adrian - Acteurs: Julia Faye Velma - Viola Louie Two Gun Rosie - Robert Edeson William Flynn - May Robson Matron - Otto Lederer Amos' Partner - Sidney D'Albrook Photograph - T. Roy Barnes Reporter - Warner P. Richmond Asst. District Attorney - Clarence Burton Polizei Sergeant - Virginia Bradford Katie - Eugene Pallette Rodney Casley - Victor Varconi Amos Hart - Phyllis Haver Roxie Hart -
Critiques (en Allemand): Chicago Schon wieder bringt uns Film-Amerika eine Ueberraschung! Man schickt uns da einen Film herüber, in dem eine süße, blonde, verheiratete Frau die Hauptrolle spielt. Sie erschießt, angeblich um ihre Ehre zu retten, einen Mann, kommt vor das Gericht und wird - freigesprochen. Das sei schon oft dagewesen? Einen Moment bitte!! Sie müssen nämlich wissen, daß der Erschossene der Liebhaber war, der die Zahlung diverser Rechnungen verweigerte und endgültig "Schluß" machen wollte. Und daß infolgedessen der Freispruch nicht der Triumph einer innerlich unschuldigen Frau ist, sondern eine raffinierte Täuschung der einfältigen Geschworenen durch den Verteidiger und die Angeklagte. Ein solcher Film ist im Lande der Frauenanbetung, die durch die vielen schmalzigen Liebesfilme noch verstärkt wurde, einfach noch nicht dagewesen. Eine schöne verheiratete Frau eine Mörderin und Dirne? Und der Schauplatz dieser Handlung nicht Paris oder London, sondern Amerika? Was werden dazu nur die Frauenvereine gesagt haben? Der Film führt zum Schluß die Handlung nicht konsequent zu Ende. Ein europäischer Dramatiker hätte wohl das Eheleben von vorn anfangen lassen, hier weist der Gatte mit pathetischer Geste der "Ruchlosen" die Tür. Sie muß auf die Straße, wo es natürlich regnet und eben die letzen Reste ihres Prozeßruhmes im Rinnstein verschwinden. Und dann gibt es auch noch ein sanftes schwarzes Mädchen, daß begründete Hoffnungen auf ein gar nicht fernes happy ending zuläßt. Aber der Film geht nicht nur gegen die Frauen vor. Er richtet sich auch gegen andere U.S.A.-Institutionen, die bisher unantastbar schienen. Zuerst einmal gegen die sogenannte "gelbe" Presse, die jeden Vorfall sofort in Auflagen umrechnet und deren Reporter wegen jedes Mordes Freudenpurzelbäume schießen. "Chicagos schönste Mörderin" wird sofort gemanagt, die Setzmaschinen tippen erfundene "interessante" Einzelheiten aus dem Leben der Berühmten, die Photographen knipsen die Heldin, als habe sie eben den Ozean überflogen. Erst wenn eine neue Sensation da ist, wird die alte plötzlich "abgeblasen". Nun - wir haben ja erst vor kurzem einen Krantz-Prozeß erlebt und erfahren, wieviel unsere deutschen Zeitungen schon von drüben "gelernt" haben. Dann kommt die Justiz an die Reihe. Im Untersuchungsgefängnis streiten sich die Mörderinnen über den gegenseitigen Ruhm und die Zahl der erschienenen Bilder, der Verteidiger inszeniert nach Erpressung eines enormen Vorschusses eine ganze Theateraufführung vor den Gerichtsschranken, die Geschworenen sind leicht zu schmeichelnde Trottel, die ein Frauenschenkel mehr interessiert als der ganze Prozeß, der Staatsanwalt schreit nach Blut, übersieht alle wesentlichen Dinge und baut seine Anklage auf schillernden Phrasen auf. Das Publikum benimmt sich wie bei einem Fußballmatch und schlägt sich zum Schluß um die Autogramme der Freigesprochenen. Manches ist wohl etwas übertrieben, aber das dürfte Absicht sein. Denn wenn man ein Volk, das die geschilderten Vorgänge in gemilderter Form ohne weiteres bisher für selbstverständlich hielt, aufrütteln will, muß man scharfe Töne anschlagen. Diese Uebertreibungen werden drüben deshalb gar nicht so stark empfunden werden. Man arbeitet auch bewußt mit Kintopp-Effekten und reißerischen Mitteln. Der Erfolg ist, daß der Film Tempo und Spannung hat. Man klagt nicht, wie die nordischen Dramatiker, die "Gesellschaft" an, beschwert den Zuschauer auch nicht mit tragischen Konflikten, sondern greift zu den Waffen des Spottes und überläßt es jedem einzelnen, über den Sinn der Geschichte zu entscheiden. Leonore J. Coffee schrieb das Manuskript nach einem gleichnamigen Bühnenstück, für die Regie zeichnet Frank Urson. Er leistet ausgezeichnete Arbeit, holt aus den Darstellern alles heraus und läßt sich keine Wirkung entgehen. Der Film ist im Grunde genommen aus derselben Mentalität heraus gemacht, wie die karikierten Zeitungsartikel. Phillis Haver, bekannt als Nuttchen aus dem "Weg allen Fleisches", hat eine Bombenrolle. Sie ist eine makellose Postkartenschönheit, ohne Seele, ohne Gefühl, die die Männer nimmt, was sie wert sind, die in Rührung macht, wenn es opportun erscheint, und wenn es zum Zahlen kommt, sich sehr freimütig selbst anbietet. Der Haver hat die Rolle sichtlich Spaß gemacht, ihre Gesten sind zuweilen von verblüffender Eindringlichkeit, sie ersetzt Titel und ganze Szenen mit einem einzigen Mäulchenmachen oder Schulterzucken. Den gehörten Ehemann, dessen goldblondes Glück sich als gelbgestrichenes Blech erweist, spielt Viktor Varconi mit nobler Haltung. Dieser Ehemann ist durchaus kein Trottel, über den man lacht und von dem man sagt, er habe sein Schicksal verdient, sondern ein schöner, kluger Mann, der im Geschäft sehr tüchtig ist und lediglich zu Haus vor logischen Konsequenzen zurückschreckt. Auch die übrigen Darsteller werden von der Regie glänzend geleitet. Die deutsche Bearbeitung von Robert Liebmann ist einwandfrei. Der Film fand sehr starken Beifall und fesselte trotz der vorgerückten Zeit restlos die Besucher. Wo man ihn geschickt herausbringt und richtig sagt, was er bezweckt, wird er auch in den Sommermonaten ein großes Geschäft sein. P.D.C.-Film im National-Verleih.» (Georg Herzberg, Film-Kurier, 10.Jg., Nr.125, 25.5.1928) "Chicago" verfilmt «Der amerikanische Bühnenschlager "Chicago", der hier in der Übersetzung Karl Vollmoellers demnächst zur Aufführung kommt, wird nunmehr verfilmt Unter der persönlichen Regie von Cecil B. de Mille wurden dieser Tage die ersten Szenen zu dem Film "Chicago" gedreht. Mit der Regie war ursprünglich Frank Urson beauftragt worden, doch hat sich später de Mille entschlossen, die Leitung der Aufnahmen selbst zu übernehmen.» (Quelle: Lichtbildbühne, 20.Jg., Nr.251, 20.10.1927) "Chicago." Eine Premiere in Hollywood. Als Regisseur für diesen Film zeichnete Frank Urson. Im wesentlichen wurde er aber von Cecil de Mille inszeniert. Von manchen Seiten wurde de Mille der Vorwurf gemacht, er habe, als der Film nicht so gut wurde, wie er es erwartet hatte, und vor allem den Vergleich mit dem bekannten Bühnendrama gleichen Namens nicht aushielt, sich nach seiner Fertigstellung hinter dem Namen eines Strohmannes versteckt. Die Unterlegung dieses Motives scheint nicht berechtigt. Urson war als Regisseur engagiert worden und blieb offiziell der Regisseur während der Herstellung. Hätte de Mille nachträglich seinen Namen auf den Film gesetzt, so wäre sicher mindestens ebenso laut protestiert worden. Nur hätte man ihm nachgesagt, er versuche sich mit fremden Lorbeeren zu schmücken. Es ist die alte Geschichte von dem Müller, seinem Sohn und dem Esel. Wo Urson aufhört und de Mille anfängt in diesem Film, wird man schwer erkennen können. An den hier hergestellten Filmen des gleichen Kalibers gemessen, ist der Film keineswegs schlecht. Das Publikum des Metropolitan-Theaters machte den Eindruck, als werde es ausgezeichnet unterhalten. Die Geschichte hat viel mit der Qualität des Films zu tun, obwohl sie beträchtlich durch die Verpflanzung von der Bühne zur Leinwand gelitten hat. Die junge Frau erschießt ihren reichen Liebhaber, als dieser, ihrer Geldforderungen satt, sich von ihr trennen will. Ihr Mann opfert sein Vermögen und bestiehlt außerdem den berühmten Anwalt, der exorbitante Honorarforderungen stellt, ihn mit dem von ihm gestohlenen Geld bezahlend, um sie vor den gesetzlichen Folgen ihrer Tat zu retten. Die Rettung gelingt, dank der für Frauenschönheit und -tränen empfänglichen Geschworenen. Zum Schluß weiste er ihr die Tür, trotzdem er sie liebt. Das ist ebensowenig überzeugend wie die Beraubung des Anwalts. Der Film ist eine leidlich gute Satire auf die Stellung der Frau in Amerika, solange er Satire bleibt. Man ist sich hier aber nicht immer über das Wesen und die Mittel der Satire klar, hat vor allem nicht das Gefühl dafür, wo die Satire aufhört und die Burleske anfängt. So enden manchen Szenen, die sich wundervoll satirisch pointieren ließen, in burlesken Verknotungen. Die Hersteller des Filmes werden allerdings unter Hinweis auf die Reaktion des Publikums, die gelungene Erzielung des Abdominallachens, welches, wie sie behaupten, den Kasseneinnahmen eines Filmes nützt, diese stilistischen Ausrutschungen verteidigen können. Ich möchte aber behaupten, daß nicht das laute Lachen im Theater zählt, das auf beinahe mechanischem Wege erzielt werden kann, wenn man z.B. jemanden einen Stoß Teller ohne irgendeinen besonderen Grund auf den Boden werfen läßt, sondern das leise Lachen, das man mit sich nach Hause nimmt. Und dieses zu erzielen, ist sicher eine große und schwere Kunst. Der Film baut sich im wesentlichen auf einem Charakter auf, dem der Frau, die von Phyllis Haver dargestellt wird. Man kann gut erkennen, was die Regie mit ihm zu tun beabsichtige, und muß mit Bedauern feststellen, daß das Beabsichtigte so vollständig gelungen ist. Die Frau ist die Personifikation der Hysterie der amerikanischen Großstadt. Den Charm des Wesens, den diese Frau neben ihren Fehlern notwendig aufweisen mußte, versucht man rein mechanisch durch Unterstreichung ihres körperlichen Charms zu ersetzen. Wie anders wurde das doch mit der gleichen Schauspielerin im "Weg allen Fleisches" gehandhabt. Victor Varconi als Ehegatte füllt seinen Platz gut aus.» (Ch., Film-Kurier, 10.Jg., Nr.74, 26.3.1928) Chicago Was die National jetzt als amerikanisches Sittendrama in neun Akten vor die Berliner Öffentlichkeit bringt, ist hier in der Reichshauptstadt an sich bereits bekannt. Es handelt sich um die Verfilmung des Schauspiels "Chicago", ein Stück, daß [!] die amerikanische Girl-Kultur, den übertriebenen Kult der Frau, geißeln und glossieren will. Diese Angelegenheit ist für uns, von ihrer politischen Seite aus gesehen, absolut unaktuell, so daß die besondere Sensation, die dieses Bild in Amerika hatte, bei uns ausblieb. Immerhin handelt es sich um ein Bild, das über dem Durchschnitt steht, sogar besser gespielt ist, als mancher andere Amerikaner und auch in der Geschichte an sich interessant wirkt. Es handelt sich dabei um eine junge Frau, die neben ihrem Mann noch einen Liebhaber hat und den Galan einfach eines Tages erschießt, als er kein Geld mehr hergeben will. Ein übergeschickter Reporter macht aus dieser kleinen Frau die schönste Mörderin Chikagos. Ein geschickter Rechtsanwalt sorgt für ihren Freispruch, allerdings nur gegen ein Honorar von fünftausend Dollar, die der Mann allerdings nur dadurch besorgen kann, daß er selbst bei dem Rechtsanwalt einbricht. Schließlich, nachdem die Mörderin freigesprochen ist, nachdem der Gatte sich mehr für sie eingesetzt hat, als das eigentlich die verliebtesten Ehemänner tun, wirft er sie aus dem Haus. Die einzelnen Szenen sind sensationell zugespitzt. Das Ganze hat zu einem Teil starke Spannung und wirkt deshalb auf das Publikum, das sicher auch das Gefühl haben wird, daß einige Partien, so zum Beispiel die Gerichtsszene, sogar Höhepunkte der modernen Filmschauspielkunst darstellen. In der männlichen Hauptrolle sieht man Victor Carconi [!], einen talentierten Ungarn, und Phillys Haver, eine Frau, die man sich merken muß, die im europäischen Sinn nicht unbedingt hübsch, aber außerordentlich pikant ist. An dem Erfolg hat der Regisseur Frank Urson Anteil, ein geschickter, routinierter Arbeiter, der vor allem auch äußere Effekte gut trifft, sowie der ausgezeichnete Photograph.» (Quelle: Kinematograph, 22.Jg., Nr.1110, 27.5.1928) Chicago (...)Das Bühnenstück Chicago, ein Reißer mit hundert Pferdekräften, eine Persiflage, die rauchende Salpetersäure auf amerikanische Rechtspflege und Presse tropft, hat im Film sozusagen eine freundliche Abschleifung erhalten. Im Bühnenwerk gibt es keinen Edelmut, keine Liebe, keine sauberen Gefühle: da gibt es ein Wettrennen um Presseruhm und Dollars - der Film dagegen wartet mit einem hingebend verliebten Mann auf, mit einem edelmütigen Dienstmädchen und setzt an den Schluß einen Ausblick in eine saubere Zukunft. Die blonde, süße, pflanzenhaft lebende Roxy Hart schießt ihren Liebhaber, der keine Dollars mehr herausrücken will, ein bißchen tot. Ihr Gatte will sich opfern: vergebens, sie kommt ins Chicagoer Frauengefängnis und wird des Mordes angeklagt. Das Gefängnis ist ein höchst seltsamer Klub etwas allzu energischer Damen, die teils zu schnell mit dem Messer waren, teils auf ein allzu frühes Kommen des Ehegatten mit einem Browning reagierten. Das wesentlichste Erregungsmoment ihres komfortablen Gefängnislebens besteht in der Angst, irgendeine andere Insassin könnte den Rekord an Zeitungsberichten über ihren "Fall" schlagen. Roxi [!] erhält den gerissensten Verteidiger, einen Meister der Regie, der allerdings etwas teuer ist und der sich für seine Forderung von 5000 Dollar Vorschuß einen kleinen Einbruch von Roxyx Mann zuzieht und nun mit seinem eigenen Geld bezahlt wird. Der Verteidiger inszeniert die Gerichtsverhandlung zu einem Drama, das mit ältesten Kulisseneffekten die Geschworenen rührt, mit Lieblichkeit, Unschuld, Reue und Moral die Zuschauer einwickelt und die freche, kleine Roxy minutenweise in einen blonden Tugendengel verwandelt. Resultat: Freispruch - die Reporter rasen - da knallt ein Schuß - eine Dame der besten Gesellschaft hat ihren Geliebten erschossen - Presse, Photo, Polizei: Roxy ist eine Sensation von gestern. Und ihr Mann hat endlich die Energie, sie hinauszuwerfen und mit einem leichten, symbolischen Bedürfnis läßt der Film abschließend das treue Dienstmädchen mit dem goldenen Herzen die ganze, von dem empörten Ehemann zusammengeschlagene Bude "aufräumen". Eine wirksame Handlung, durch knallige Filmeffekte vergröbert. Es ist gegenüber dem Bühnenstück vieles zuerfunden worden, es ist aus einer ätzenden ironischen Verulkung eine freundlich derbe Satire geworden. Der Regisseur Frank Urson, der "unter der künstlerischen Oberleitung von Cecil B. de Mille" arbeitete, hat einen einheitlichen Stil nicht gefunden. Der Film schwankt zwischen Charakterkomödie und handfestem Schwank, und Urson tut bald in dieser, bald in jener Richtung zu viel oder zu wenig. Aber das geht nur das künstlerische Urteil an: die Wirkung des Chicago-Films ist eine bemerkenswert große. Die Szene im Gerichtssaal, in der Roxy unter Leitung ihres Anwalts ihr Repertoire abwickelt, ist mit viel Feinheit gestaltet, mit viel Sinn für bildlich-satirische Wirkungen geformt. Der Regisseur entwickelt einen erheblichen Reichtum technischer Mittel, die in den darstellerischen Leistungen wesentlichste Unterstützung finden. Phyllis Haver ist nach diesem Film eine klar umrissene Figur des heutigen Film-Reportoires [!]. Sie ist die ideale Darstellerin jener amüsanten Frauen, die haltlos zwischen Liebe und Luxus schwanken, deren Moralbegriffe etwas aufgeweicht sind und die das Leben mehr aus der Perspektive des Amüsements als der Pflicht betrachten. Natürlich ist sie nicht böse: sie ist nur ein klein bißchen frivol. Sie ist auch keine Kokotte, aber das normale Leben im ehelichen Pflichtenkreise würde sie als ledern und spießig empfinden. Die Haver hat darstellerisch und optisch alle Voraussetzungen, um diesen Typ zu gestalten, ohne dämonisch oder kulissenreißerisch zu wirken. Sie gibt nur gern ein bißchen zu viel, und eine vorsichtige Hand, die ihr ab und zu einen Spiegel vorhalten würde, könnte ihr gut tun. Der Gatte ist Victor Varcony, der zu edelmütig sein muß, zu hörig dieser hübschen leichsinnigen Blondine, als daß er zu einer runden, greifbaren Gestaltung kommen könnte. Der Verteidiger ist Robert Edeson: er ist gerissen, zielbewußt, brutal: ein bißchen mehr Liebenswürdigkeit und ein wenig mehr Genießerfreude hätte ihm nichts schaden können. Photographiert wurde ausgezeichnet, insbesondere die Frauenaufnahmen sind von bemerkenswerter Weichheit und Präzision. Die gesamte äußere Aufmachung ist geschmackvoll und unaufdringlich. Das Publikum ging aufs höchste interessiert mit: ein einleitender Vortrag von Lion Feuchtwanger kam nicht recht zur Geltung. Chikago wird ein ausgezeichnetes Geschäft werden.» (R.K., Lichtbildbühne 21.Jg., Nr.126, 25.5.1928) Girl-Kultur [Fazit des Vortrags von Lion Feuchtwanger, der in der Lichtbildbühne wiedergegeben ist] (...) Dieser Film ist geschrieben vom neuen Amerika gegen das alte, von einem neuen Frauentyp gegen den alten. Wenn er schwarz-weiß malt, wenn das Dienstmädchen überedel ist, die Nutte übernuttig, wenn der Mann, der an ihr hängt, eine unwahrscheinliche geistige Schlichtheit an den Tag legt, so sind diese Schwarz-Weiß-Zeichnungen nicht nur entstanden aus billiger Freude am Effekt, sondern aus dem Willen, einem tief eingefressenen Übel mit den stärksten Mitteln beizukommen. (Quelle: Lichtbildbühne, 21.Jg., Nr. 130, 30.5.1928) The long history of "Chicago" began almost eight decades before its 2002 musical screen version. (...) Never faltering, "Chicago" is unquestionably the work of a master - but who was he? The direction is credited to Frank Urson, a former cinematographer who had capably directed a dozen films in the six years before "Chicago" (...). At the same time however there is a pervasive belief that DeMille's own contribution might have gone further than "supervision". (...) Who made Chicago matters less than the rediscovery of an outstanding work offering a ferocious view of American society and press in the 1920s.» (David Robinson, Quelle: http://www.cinetecadelfriuli.org/gcm/ed_precedenti/edizione2007/edizione2007_frameset.html)
Remarques géneraux: «Die erste Verfilmung jenes Stoffes, der als Musical 2002 mit Catherine Zeta-Jones, Renée Zellweger und Richard Gere neuverfilmt wurde, ist eine unterhaltsame Komödie über amerikanisches Gerichtswesen, Sensationsjournalismus und Showbusineß. Roxie Hart erschießt einen Mann. Ãœberrascht von dem einsetzenden Presserummel lernt sie, den Mordfall geschickt zu nutzen, um auf die Titelseiten der Boulevardpresse zu gelangen. Mit Hilfe eines gerissenen Anwalts versucht sie, vor Gericht einen Freispruch zu erwirken.» (Stummfilmtage Bonn)

La jeune fille au carton à chapeau

(Djevushka s korobkoi), Mise en scène:   Boris Barnet, Union Sovjetique - 1927
Production: Mezhrabpom-Rus - Metteur en scène: Boris Barnet - Scénariste: Valentin Turkin - Vadim Shershenevich - Directeur de la Photographie: B Filshin - Boris Frantsisson - Direction artistique: Sergej Kozlovskij - Acteurs: Serafima Birman Madame Irène - Vladimir Fogel Telegraphist - Ivan Koval-Samborskij Ilya Snegirev - E Miljutina Marfusha, Irenes Dienerin - Pavel Pol Nikolaj Matveitch, Irenes Mann - Anna Sten Natasha Korosteljeva - V Mikhajlov Natasha's Grossvater - V Popov Billett-Verkäufer -
Critiques (en Allemand): Wie zu erwarten, hat die allenthalben angepriesene Lotterie auch Eingang ins Kino gefunden. Der neue Film der Mezÿra b pom Studios behandelt dieses Thema. Da es sich um eine Komödie handelt, ist das betreffende Los ein Hauptgewinn, und die Hutmacherin, die man mit dem Los um ihren Lohn bringen wollte, gewinnt 25.000 Rubel. Parallel dazu entspinnt sich zwischen ihr und einem etwas linkischen, aber netten Jungen aus der Provinz eine zarte Liebesgeschichte, die, da die Handlung in Moskau spielt, mit der Wohnungsnot verknüpft ist.
Diese Komödie ist weit davon entfernt, realistisch zu sein, aber sie bereitet Vergnügen und ist streckenweise sehr komisch. Dieses gute Team mit seinem fähigen Regisseur belegt einmal mehr, dass unsere Studios wirklich komische Drehbücher benötigen. Bis dahin muss sich das sowjetische Kino wohl noch mit solchen charmanten Farcen begnügen.
(N. Volkov, in: Izvestia, 17.5.1927)

Dass dieser Film eine Mezÿrabpom-Produktion ist, bedarf eigentlich keiner Erwähnung: in keinem anderen sowjetischen Studio hätte ein solcher Film entstehen können. Trotz all ihrer Fehler sind Filme von Kuleschow und selbst die von Abram Room erheblich besser geeignet, ein zeitgenössisches, die Ideologie verbreitendes und ein Gemeinwesen schaffen- des sowjetisches Kino zu entwickeln, als DAS MÄDCHEN MIT DER HUTSCHACHTEL. Filme dieser Art sind gefährlich, weil sie zwar grossen kinematographischen Wert und ausgezeichnete Schauspieler aufweisen, ansonsten aber absolut neutral und insofern untadelig sind. Der Film unterhält so gut und entspricht so sehr dem Geschmack des Publikums, dass man befürchten muss, Mezÿrabpom werde in Zukunft rentable und untadelige Operettenfilme herstellen. Es ist äusserst schwer, Gründe gegen so einen Film vorzubringen, aber seine Untadeligkeit belegt immerhin Mezÿrabpoms Tendenz, das Ziel der Entwicklung einer sowjetischen Agitprop-Komödie aufgegeben zu haben. Denn eine lustige Situationskomödie wie DAS MÄDCHEN MIT DER HUTSCHACHTEL ist keine Propaganda, nicht einmal für die Staatslotterie des Volksministeriums für Finanzen, das den Film doch in Auftrag gegeben hat. Desungeachtet ist der Film sehr gut gemacht und Barnets Regie korrekt.
(Iakovlev, in: Kino, 3.5.1927)

Auch DAS MÄDCHEN MIT DER HUTSCHACHTEL befolgt die Kuleschow-Prinzipien, jedoch in abgemilderter Weise. Grossaufnahmen setzt Barnet seltener ein als Eisenstein; hingegen ist ein deutlicher Einfluss des konstruktivistischen Theaters mit seiner klaren Geometrie zu spüren. Barnet verfügt über ein ausgeprägtes Gespür für den Raum, in dem einzelne Objekte eine präzise Bedeutung erlangen, wie z.B. der abschüssige Weg in der weiten Schneelandschaft bei Nataschas Haus oder das Zimmer bei Madame Irène, dessen Mobiliar hinein- und wieder hinauswandert. Die Darsteller richten sich nach der avantgardistischen Bewegung der Feks, der »Fabrik für den exzentrischen Schauspieler«, die ein möglichst unrealistisches, karikaturistisches Spiel propagierte.
(Paul Davay, in: Jean-Loup Passek (Hg.): Le Cinéma russe; L.Equerre, Paris 1981) / zitiert nach Bonner Kinemathek

San Francisco Silent Film Filmfestival 2006 Program

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